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Pressespiegel: Süddeutsche Zeitung vom 16.9.2017

“Wir machen das”

Die Gemeinde Roetgen baut ein Haus für Flüchtlinge – nur mit Spendengeld. Der

Initiator will damit ein Zeichen setzen.

Von Christian Wernicke

Der schmucke Neubau sieht aus wie manch anderes Doppelhaus in Roetgen: viel

Glas, eine rot verschalte Mansarde, ein schwungvolles Dach. Vorm Eingang verlegen

Maurer noch Granitplatten, drinnen schraubt der Installateur an der Ökoheizung.

“Das miserable Wetter in diesem Sommer hat uns zwei Wochen zurückgeworfen”,

erklärt Bernhard Müller, während er durch den matschigen Vorgarten stapft, “aber

bis zum Fest kriegen wir das fertig – bestimmt!” Müller ist Optimist. Immer.

Ohne Müllers Zuversicht hätte Roetgen, die 8500-Einwohner-Gemeinde im

Speckgürtel von Aachen, wohl nichts zu feiern an diesem Samstag. Müller und seine

Verbündeten im Ort haben etwas gewagt und gebaut, was es bisher nirgendwo in

der Republik gibt: Das dreistöckige Gebäude an der Pilgerbornstraße ist das erste

Wohnhaus für Flüchtlinge in Deutschland, das allein von privaten Spenden finanziert

wird. Samstag ist Einweihung, von Oktober an leben hier 20 Asylbewerber: drei

Familien, dazu vier ledige Männer, geflohen aus Syrien, dem Irak oder einem anderen

Land im Krieg. 700 000 Euro hat der Neubau gekostet, fast die Hälfte davon brachten

die Bürger von Roetgen auf: per Almosen, mit Darlehen und Bürgschaften. Den

Kredit von 400 000 Euro wird Müllers Trägerverein (“Roetgen hilft Menschen in Not

e.V.”) aus den Mieteinnahmen abstottern, die die Stadt für die Unterbringung der

Flüchtlinge zahlt.

Mit dem stillen Stolz eines Bauherrn geht Müller durch die Etagen. Der 68-Jährige im

rostroten Cordjackett rückt sein Halstuch zurecht, es ist nasskalt an diesem Morgen

im “Tor zur Eifel”. So nennt sich Roetgen seit ein paar Jahren. Die fünf Zwei-Zimmer-

Wohnungen mit Vinyl-Boden sind noch leer, nur in zwei Küchen stehen Schränke,

Tische und je eine Spüle – “alles gespendet”, sagt Müller. “Dies wird kein Ghetto, kein

Heim – sondern ein Haus für Flüchtlinge.” Ein Zuhause.

Bernd Vogel, wie Müller Mitglied im Gemeinderat, hat gerade zwei Elektroherde

gekauft. 20 Prozent Rabatt konnte er dem Supermarkt abhandeln “für die gute

Sache”. Jetzt braucht der Berufsschullehrer Hilfe, um die Geräte ins Obergeschoss zu

wuchten. Warum er sich hier abrackert? “Das ist schlicht eine Frage der

Menschlichkeit.” Nur, warum klappt das hier besser als anderswo? Vogel, einst CDU,

nun parteilos, grinst. “Wegen dem da”, sagt er und zeigt auf Müller, den Grünen.

Müller ist der Motor, das weiß jeder im Ort. Doch der Unternehmensberater mit dem

wirren grauen Haar nennt andere Gründe für den Erfolg. Die Bevölkerung sei

“wohlhabend, gebildet, weltoffen”. Viele, die in den vergangenen Jahren aus Aachen

in die Wälder südlich der Stadt zogen, studieren oder lehren an der Universität. “Wir

sind ein Schlafdorf, aber wir haben eine aktive, muntere Bürgerschaft”, sagt

Bürgermeister Jorma Klauss (SPD). Man kennt sich in Roetgen, Müller und seine

Mitstreiter genießen Vertrauen. “In einer anonymen Großstadt wäre so ein Projekt

kaum möglich”, fügt Klauss hinzu.

Hilfe für Fremde hat Tradition in Roetgen. Vor beinahe 50 Jahren nahm man Polen

auf, später die Vertriebenen aus Bosnien und Kosovo. Seit Jahrzehnten existiert ein

Flüchtlingsrat. Und dennoch, im Herbst 2015 war auch das kleine Roetgen mit

damals 200 Geflohenen überfordert. Alle Parteien stimmten deshalb zu, neue

Unterkünfte zu suchen. Der Gemeinde fehlte das Geld – als Ausweg blieb Müllers

Bürgerverein. “Eigentlich”, sagt Müller, “war die Sache einfach.” Binnen Wochen

fanden sich 357 Wohltätige, die mal 100, mal 500 Euro spendeten oder ein Darlehen

über 3000 Euro abzeichneten. Die Spendenbereitschaft sei von einer Welle getragen

worden, glaubt Müller: “Das war die Woge des Trotzes – viele wollten ein Zeichen

setzen gegen den Aufstieg der AfD.” Die drei berühmten Worte von Kanzlerin Merkel

verwandelte Müller zu einem eigenen Motto: “Wir machen das.”

Es gibt Bedenken, auch in Roetgen. Die 17 Familien, die an der Pilgerbornstraße

wohnen, sind skeptisch. “Wir wissen nicht, wer da kommt”, sagt Elmar Willemsen,

der Sprecher der Siedlungsgemeinschaft. Alarmiert waren die Anwohner über

ursprüngliche Pläne, im Neubau bis zu 36 Flüchtlinge unterzubringen. Verein und

Gemeinderat sprechen nun von 20, maximal 24 Personen. Das entspannt die Lage,

nimmt aber nicht alle Sorgen. Willemsens Tochter ist fünf, er hat die Bilder von der

Kölner Silvesternacht gesehen: “Natürlich hat man da schnell Horrorvisionen im

Kopf.” Aber er möchte “positiv denken”, und mit der AfD wolle niemand in der

Siedlung etwas zu tun haben: “Wenn das Haus gut läuft, haben auch wir kein

Problem.” Am Samstag bringt er einen Kuchen zum Fest.

Müllers Idylle ist nicht die Republik. Er weiß das. Dennoch wagt er ein Zahlenspiel. In

Roetgen lebe ein Zehntausendstel der Bundesbevölkerung, weshalb “hochgerechnet

aufs ganze Land das Modell Roetgen ein Spendenvolumen von drei Milliarden Euro

ergebe. “Das wären Häuser für 200 000 Flüchtlinge.” Rein mathematisch.

URL: http://www.sueddeutsche.de/politik/nordrhein-westfalen-wir-machen-das-1.3668948

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Quelle: SZ vom 16.09.2017

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